Maastricht damals und heute: Reflexionen zur Kompetenzpolitik
Lesen Sie hier eine Zusammenfassung der Abschlussrede:
Das erste – und zugleich letzte – Mal vor dieser Konferenz war ich Mitte Dezember 2004 in Maastricht. Das ist nun fast genau zwanzig Jahre her. Damals war die Stadt Gastgeberin eines EU-Gipfels der Bildungsminister:innen, der das Ziel hatte, den zwei Jahre zuvor gestarteten Kopenhagen-Prozess weiter zu stärken. Europa war zu diesem Zeitpunkt von großem Selbstvertrauen geprägt: Die berufliche Bildung sollte – und konnte – zu einer tragenden Säule der europäischen Kompetenzpolitik werden.
Die Geschichte ist bekannt. Nachdem der Bologna-Prozess die Harmonisierung der Hochschulsysteme angestoßen hatte, folgte die Berufsbildung mit ähnlich ambitionierten Zielsetzungen. Viele der Konzepte, Instrumente und Politiken, die unsere Arbeit bis heute prägen, haben dort ihren Ursprung: der Europäische Qualifikationsrahmen (EQR), Leistungspunktesysteme in der Berufsbildung, Rahmen zur Qualitätssicherung, die Validierung non-formalen und informellen Lernens sowie der Ausbau des lebenslangen Lernens.
Berufsbildungsforschung im Rückblick
Auch für die Berufsbildungsforschung markierte Maastricht 2004 einen Wendepunkt. Erstmals präsentierte eine Gruppe von Forschungskolleg:innen einen umfassenden Bericht zum Stand der Berufsbildung in Europa. Ich erinnere mich noch sehr gut daran, wie Tom Leney die Ergebnisse dieser Studie vor rund 500 Teilnehmenden vorstellte – mit einer intellektuellen Offenheit und kritischen Schärfe, die für eine hochrangige bildungspolitische Veranstaltung ungewöhnlich war. Die Langfassung dieses Berichts ist auch heute noch lesenswert.
Auf derselben Konferenz hatte ich zudem die Gelegenheit, ein Projekt zu präsentieren, das ein Leistungspunktesystem für die Berufsbildung vorschlug – ein Projekt, das später mit dem Leonardo-da-Vinci-Preis ausgezeichnet wurde. Doch wie viele vielversprechende Konzepte jener Zeit wurde es nie vollständig umgesetzt. Dennoch war die Aufbruchsstimmung deutlich spürbar: ein erweitertes Europa, Beitrittskandidaten vor der Tür, neue Forschungsnetzwerke und Communities im Entstehen.
Von Skills zu Capabilities
Aus heutiger Perspektive empfinde ich jedoch zunehmend Ambivalenz. In den vergangenen zwei Jahrzehnten hat sich in der europäischen Kompetenzpolitik vergleichsweise wenig grundlegend Neues getan. Lebenslanges Lernen, Kompetenzvalidierung, Transparenz von Qualifikationen, Beschäftigungsfähigkeit – all diese Themen standen bereits Anfang der 2000er-Jahre auf der Agenda. Was folgte, war oft mehr vom Gleichen, teils unter neuen Bezeichnungen. Das zugrunde liegende politische Ziel blieb bemerkenswert konstant: Wie kann Berufsbildung effektiver und effizienter dazu beitragen, den Fachkräftebedarf der Wirtschaft zu decken?
Mit dem Projekt Skills2Capabilities (S2C) wollten wir dieser engen Perspektive zumindest ein Stück weit entgegenwirken. Ausgangspunkt war die Überzeugung, dass berufliche Bildung nicht nur auf Arbeitsmarktnachfrage reagiert, sondern Märkte, Betriebe und Berufe aktiv mitgestaltet. Wir haben den analytischen Fokus bewusst von „Skills“ auf „Capabilities“ verschoben: von isolierten Kompetenzen hin zur Fähigkeit von Menschen, Übergänge zu bewältigen, sich an Veränderungen anzupassen und Handlungsmacht über ihr Erwerbsleben auszuüben.
In diesem Sinne war S2C nie einfach ein weiteres Projekt zu Skill Mismatch. Untersucht wurde vielmehr, wie Berufsbildungssysteme, Politiken und Institutionen zur Entwicklung von Capabilities über den Lebensverlauf beitragen – oder diese auch begrenzen. Wir haben gefragt, welche Lernumgebungen, Governance-Strukturen und Finanzierungsmodelle erforderlich sind, wenn Erwerbstätige zunehmend fragmentierte Erwerbsbiografien bewältigen sollen.
Wenn ich auf die Ergebnisse zurückblicke, die im Rahmen dieser Abschlussveranstaltung präsentiert und diskutiert wurden, glaube ich, dass uns dies teilweise gelungen ist. Das Projekt hat eine breite empirische und konzeptionelle Grundlage geschaffen – zu Kompetenznachfrage, Reaktionsfähigkeit von Berufsbildungssystemen, Laufbahnberatung, Politikgestaltung und Finanzierung. Gleichzeitig ist klar: Ein einzelnes Projekt, selbst in dieser Größenordnung, kann keinen vollständigen Paradigmenwechsel herbeiführen. Zudem müssen wir weiter daran arbeiten, unsere Ergebnisse über die Forschungsgemeinschaft hinaus sichtbarer und wirksamer zu machen.
Einschnitte im Projektverlauf
Ein Projekt mit rund einem Dutzend Partnerinstitutionen und etwa 50 Forschenden bringt zwangsläufig Höhen und Tiefen mit sich – Anfänge und Abschiede, freudige wie schwierige Momente. TU Dortmund trat dem Konsortium bei, nachdem Philipp Grollmann dort eine Professur übernommen hatte; KRIVET aus Korea wurde unser erster außereuropäischer Partner und markierte einen kleinen, aber wichtigen Schritt hin zu einem globaleren Dialog in der Berufsbildungsforschung. Zuletzt würdigte auch der deutsche Wissenschaftsrat ausdrücklich die Beteiligung des BIBB an diesem Projekt und hob dessen wissenschaftliche Qualität und internationale Relevanz hervor.
Es gab auch persönliche Wegmarken. Giorgio Brunello, der das unvergessliche Projekttreffen in Venedig organisierte, ist inzwischen in den Ruhestand gegangen. Und es gab einen schmerzlichen Verlust: den Tod von Ellu Saar, Leiterin des estnischen Forschungsteams. Ellu war nicht nur eine herausragende Soziologin; sie war auch diejenige, die mich vor zwanzig Jahren erstmals eingeladen hatte, an einem Projekt im Vorläuferprogramm von Horizon 2020 mitzuwirken. Ohne sie stünde ich heute nicht hier.
Ergebnisse und Ausblick
Auf der positiven Seite hat das Projekt bereits rund 40 wissenschaftliche Publikationen hervorgebracht, viele weitere werden 2026 und 2027 folgen. Und vor allem: Die Zusammenarbeit endet nicht hier. Über Publikationen, Konferenzen und neue Projektideen wird die Partnerschaft fortgesetzt – getragen von einem gemeinsamen Wunsch zur weiteren Kooperation.
Zum Abschied von Skills2Capabilities als Horizon-Projekt möchte ich danken: unserem Advisory Board, allen Partnern und nationalen Teams, jenen, die für die Dissemination gesorgt haben, sowie der Europäischen Kommission für ihre konstruktive Unterstützung. Mein besonderer Dank gilt dem Koordinationsteam von 3s, das dieses Projekt mit Professionalität und Vertrauen getragen hat.
Nach zwanzig Jahren nach Maastricht zurückzukehren, ist symbolisch. Vieles hat sich verändert – und doch sind viele Fragen erstaunlich vertraut geblieben. Wenn Skills2Capabilities auch nur einen kleinen Beitrag dazu geleistet hat, Kompetenzpolitik stärker aus der Perspektive von Capabilities, Lernenden und Erwerbstätigen neu zu denken, dann war dieser Weg die Mühe wert.
Jörg Markowitsch, 14. November 2025
image by Skills2Capabilities
Ansprechperson: Jörg Markowitsch
Client: Horizon Europe

