19. Dezember 2025

Maastricht damals und heute: Reflexionen zur Kompetenzpolitik

Nach drei Jahren intensiver Forschung und Zusammenarbeit geht das Horizon-Europe-Projekt Skills2Capabilities zu Ende. Koordinator Jörg Markowitsch blickte bei der Abschlusskonferenz auf zentrale Erkenntnisse zurück.

Lesen Sie hier eine Zusammenfassung der Abschlussrede:

Das erste – und zugleich letzte – Mal vor dieser Konferenz war ich Mitte Dezember 2004 in Maastricht. Das ist nun fast genau zwanzig Jahre her. Damals war die Stadt Gastgeberin eines EU-Gipfels der Bildungsminister:innen, der das Ziel hatte, den zwei Jahre zuvor gestar­te­ten Kopenhagen-Prozess weiter zu stärken. Europa war zu diesem Zeitpunkt von großem Selbstvertrauen geprägt: Die beruf­li­che Bildung sollte – und konnte – zu einer tragenden Säule der euro­päi­schen Kompetenzpolitik werden.

Die Geschichte ist bekannt. Nachdem der Bologna-Prozess die Harmonisierung der Hochschulsysteme ange­sto­ßen hatte, folgte die Berufsbildung mit ähnlich ambi­tio­nier­ten Zielsetzungen. Viele der Konzepte, Instrumente und Politiken, die unsere Arbeit bis heute prägen, haben dort ihren Ursprung: der Europäische Qualifikationsrahmen (EQR), Leistungspunktesysteme in der Berufsbildung, Rahmen zur Qualitätssicherung, die Validierung non-formalen und infor­mel­len Lernens sowie der Ausbau des lebens­lan­gen Lernens.

Berufsbildungsforschung im Rückblick

Auch für die Berufsbildungsforschung markierte Maastricht 2004 einen Wendepunkt. Erstmals prä­sen­tier­te eine Gruppe von Forschungskolleg:innen einen umfas­sen­den Bericht zum Stand der Berufsbildung in Europa. Ich erinnere mich noch sehr gut daran, wie Tom Leney die Ergebnisse dieser Studie vor rund 500 Teilnehmenden vor­stell­te – mit einer intel­lek­tu­el­len Offenheit und kri­ti­schen Schärfe, die für eine hoch­ran­gi­ge bil­dungs­po­li­ti­sche Veranstaltung unge­wöhn­lich war. Die Langfassung dieses Berichts ist auch heute noch lesenswert.

Auf derselben Konferenz hatte ich zudem die Gelegenheit, ein Projekt zu prä­sen­tie­ren, das ein Leistungspunktesystem für die Berufsbildung vorschlug – ein Projekt, das später mit dem Leonardo-da-Vinci-Preis aus­ge­zeich­net wurde. Doch wie viele viel­ver­spre­chen­de Konzepte jener Zeit wurde es nie voll­stän­dig umgesetzt. Dennoch war die Aufbruchsstimmung deutlich spürbar: ein erwei­ter­tes Europa, Beitrittskandidaten vor der Tür, neue Forschungsnetzwerke und Communities im Entstehen.

Von Skills zu Capabilities

Aus heutiger Perspektive empfinde ich jedoch zunehmend Ambivalenz. In den ver­gan­ge­nen zwei Jahrzehnten hat sich in der euro­päi­schen Kompetenzpolitik ver­gleichs­wei­se wenig grund­le­gend Neues getan. Lebenslanges Lernen, Kompetenzvalidierung, Transparenz von Qualifikationen, Beschäftigungsfähigkeit – all diese Themen standen bereits Anfang der 2000er-Jahre auf der Agenda. Was folgte, war oft mehr vom Gleichen, teils unter neuen Bezeichnungen. Das zugrunde liegende poli­ti­sche Ziel blieb bemer­kens­wert konstant: Wie kann Berufsbildung effek­ti­ver und effi­zi­en­ter dazu beitragen, den Fachkräftebedarf der Wirtschaft zu decken?

Mit dem Projekt Skills2Capabilities (S2C) wollten wir dieser engen Perspektive zumindest ein Stück weit ent­ge­gen­wir­ken. Ausgangspunkt war die Überzeugung, dass beruf­li­che Bildung nicht nur auf Arbeitsmarktnachfrage reagiert, sondern Märkte, Betriebe und Berufe aktiv mit­ge­stal­tet. Wir haben den ana­ly­ti­schen Fokus bewusst von „Skills“ auf „Capabilities“ ver­scho­ben: von iso­lier­ten Kompetenzen hin zur Fähigkeit von Menschen, Übergänge zu bewäl­ti­gen, sich an Veränderungen anzu­pas­sen und Handlungsmacht über ihr Erwerbsleben auszuüben.

In diesem Sinne war S2C nie einfach ein weiteres Projekt zu Skill Mismatch. Untersucht wurde vielmehr, wie Berufsbildungssysteme, Politiken und Institutionen zur Entwicklung von Capabilities über den Lebensverlauf beitragen – oder diese auch begrenzen. Wir haben gefragt, welche Lernumgebungen, Governance-Strukturen und Finanzierungsmodelle erfor­der­lich sind, wenn Erwerbstätige zunehmend frag­men­tier­te Erwerbsbiografien bewäl­ti­gen sollen.

Wenn ich auf die Ergebnisse zurück­blicke, die im Rahmen dieser Abschlussveranstaltung prä­sen­tiert und dis­ku­tiert wurden, glaube ich, dass uns dies teilweise gelungen ist. Das Projekt hat eine breite empi­ri­sche und kon­zep­tio­nel­le Grundlage geschaf­fen – zu Kompetenznachfrage, Reaktionsfähigkeit von Berufsbildungssystemen, Laufbahnberatung, Politikgestaltung und Finanzierung. Gleichzeitig ist klar: Ein einzelnes Projekt, selbst in dieser Größenordnung, kann keinen voll­stän­di­gen Paradigmenwechsel her­bei­füh­ren. Zudem müssen wir weiter daran arbeiten, unsere Ergebnisse über die Forschungsgemeinschaft hinaus sicht­ba­rer und wirksamer zu machen.

Einschnitte im Projektverlauf

Ein Projekt mit rund einem Dutzend Partnerinstitutionen und etwa 50 Forschenden bringt zwangs­läu­fig Höhen und Tiefen mit sich – Anfänge und Abschiede, freudige wie schwie­ri­ge Momente. TU Dortmund trat dem Konsortium bei, nachdem Philipp Grollmann dort eine Professur über­nom­men hatte; KRIVET aus Korea wurde unser erster außer­eu­ro­päi­scher Partner und markierte einen kleinen, aber wichtigen Schritt hin zu einem glo­ba­le­ren Dialog in der Berufsbildungsforschung. Zuletzt würdigte auch der deutsche Wissenschaftsrat aus­drück­lich die Beteiligung des BIBB an diesem Projekt und hob dessen wis­sen­schaft­li­che Qualität und inter­na­tio­na­le Relevanz hervor.

Es gab auch per­sön­li­che Wegmarken. Giorgio Brunello, der das unver­gess­li­che Projekttreffen in Venedig orga­ni­sier­te, ist inzwi­schen in den Ruhestand gegangen. Und es gab einen schmerz­li­chen Verlust: den Tod von Ellu Saar, Leiterin des est­ni­schen Forschungsteams. Ellu war nicht nur eine her­aus­ra­gen­de Soziologin; sie war auch diejenige, die mich vor zwanzig Jahren erstmals ein­ge­la­den hatte, an einem Projekt im Vorläuferprogramm von Horizon 2020 mit­zu­wir­ken. Ohne sie stünde ich heute nicht hier.

Ergebnisse und Ausblick

Auf der positiven Seite hat das Projekt bereits rund 40 wis­sen­schaft­li­che Publikationen her­vor­ge­bracht, viele weitere werden 2026 und 2027 folgen. Und vor allem: Die Zusammenarbeit endet nicht hier. Über Publikationen, Konferenzen und neue Projektideen wird die Partnerschaft fort­ge­setzt – getragen von einem gemein­sa­men Wunsch zur weiteren Kooperation.

Zum Abschied von Skills2Capabilities als Horizon-Projekt möchte ich danken: unserem Advisory Board, allen Partnern und natio­na­len Teams, jenen, die für die Dissemination gesorgt haben, sowie der Europäischen Kommission für ihre kon­struk­ti­ve Unterstützung. Mein beson­de­rer Dank gilt dem Koordinationsteam von 3s, das dieses Projekt mit Professionalität und Vertrauen getragen hat.

Nach zwanzig Jahren nach Maastricht zurück­zu­keh­ren, ist sym­bo­lisch. Vieles hat sich verändert – und doch sind viele Fragen erstaun­lich vertraut geblieben. Wenn Skills2Capabilities auch nur einen kleinen Beitrag dazu geleistet hat, Kompetenzpolitik stärker aus der Perspektive von Capabilities, Lernenden und Erwerbstätigen neu zu denken, dann war dieser Weg die Mühe wert.

Jörg Markowitsch, 14. November 2025

image by Skills2Capabilities


Ansprechperson: Jörg Markowitsch

Client: Horizon Europe

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